Lager Lindele – Leben hinter Stacheldraht

Am 24. Oktober wurde die Kabinettausstellung zur Geschichte des Lager Lindele im Museum eröffnet.
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Aus Guernsey und Sark waren die ehemalige Deportierte Nellie Le Feuvre (vorne links) zusammen mit den beiden „Biberacher Kindern“ Irene Shorrock  (mittlere Reihe, 3.v.r.) und Dudley Bradley  (hintere Reihe, 3.v.l.) nebst Familienangehörigen sowie James Baxter (ganz rechts), der Sohn eines britischen Offiziers, einer der damaligen Tunnelflüchtlinge, angereist.
Bei der Eröffnung vor rund 400 Personen sprachen OB Norbert Zeidler, Rotraud Rebmann für den Freundeskreis Guernsey im Städte Partner Biberach e. V. und Museumsleiter Frank Brunecker. Diese bewegenden Reden möchten wir Ihnen zugänglich machen.

Die Rede von Museumsleiter Frank Brunecker

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Herzlich Willkommen, meine Damen und Herren zur Eröffnung der Kabinettausstellung „Lager Lindele – Leben hinter Stacheldraht“. 

  My dear English guests, we are very, very pleased with your visit. Thank you so much for coming and making the long way to Biberach to see our small exhibition. It’s not a big exhibition, but a great effort. We are very interested in your opinion about our presentation. It’s a great honor for us, to see you, the former deportees or the families of former deportees or the families of former war prisoners, here in Biberach in our museum. It’s a great honor for us to be your friends, the friends of Guernsey and the Channel Islands and the friends of Britain. Many thanks for coming tonight. It’s too bad that I can’t speak to you in English. Please listen to our whistling translators. Welcome to you all.

  Liebe Gäste, liebe Freunde des Biberacher Museums, Sie wissen, dass mir die Aufarbeitung der Geschichte des Nationalsozialismus in Biberach am Herzen liegt. Sie wissen, dass ich sehr gerne vor Ihnen stehe, um Ihnen auch solche schwierigen Themen nahe zu bringen. Aber heute Abend sollte nicht ich vor Ihnen stehen. Heute Abend sollte Reinhold Adler vor Ihnen stehen. Denn alles, was wir Ihnen heute präsentieren, fußt im Wesentlichen auf den langjährigen Forschungen von Reinhold Adler.

  Herr Reinhold Adler aus Fischbach war Geschichtslehrer in Biberach, und hat bereits in den 1980er Jahren zusammen mit seinen Schülern Recherchen über den russischen Friedhof an der Memminger Straße angestrengt und viele Texte über die Geschichte des Biberacher Lagers auf dem Lindele und verwandte Themen publiziert. Im Jahr 2002 hat er sein umfassendes Buch über die Geschichte der britischen Deportierten im „Lager Lindele“ vorgelegt, und im Jahr 2006 hat er diese Forschungsergebnisse in komprimierter Form in einem Kapitel im Rahmen des Bandes „Nationalsozialismus in Biberach“ einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Er hat auch als wichtiger Berater an der seinerzeitigen, sehr erfolgreichen Ausstellung „Nationalsozialismus in Biberach“ hier im Museum Biberach mitgewirkt, und natürlich ist er Mitglied beim Freundeskreis Guernsey. Nicht ich sollte heute zu Ihnen sprechen, sondern er. Ich springe für ihn ein, weil er aus gesundheitlichen Gründen verhindert ist. Ich bitte um Verständnis und betone, dass ich vor allem in Herrn Adlers Namen spreche.

  Das „Lager Lindele“ in Biberach ist während des Zweiten Weltkriegs ein Lager für Kriegsgefangene und Deportierte. Es geht zurück auf die kurze Episode einer Garnison der Wehrmacht in Biberach 1939/40 und wird von der Wehrmacht und später vom Reichssicherheitshauptamt geführt. Deshalb trägt es militärische Verwaltungsnamen wie Oflag (Offizierslager) oder Ilag (Internierungslager). Die Stadtverwaltung Biberach ist unbeteiligt und erhält nur wenige Informationen über die Vorgänge im Lager. Von der Biberacher Bevölkerung jedoch erhält es den inoffiziellen Namen „Lager Lindele“, der sich auf die Örtlichkeit am Stadtrand nahe dem Aussichtspunkt Lindele bezieht.

  Das „Lager Lindele“ ist kein Konzentrationslager, sondern ein Vorzeigelager im deutschen Lagersystem des Nationalsozialismus, das zeitweise vom Internationalen Roten Kreuz besucht wird. Dennoch kommen hier rund 150 russische Kriegsgefangene zu Tode, und jahrelang werden unschuldige Zivilisten von den englischen Kanalinseln – Familien, Frauen und Kinder – gefangen gehalten. Es ist ein historischer Glücksfall, dass wir einige ehemalige britische Deportierte und ihre Nachfahren sowie die Angehörigen ehemaliger Kriegsgefangener hier und heute zur Eröffnung unserer Kabinettausstellung begrüßen dürfen. Ich freue mich sehr darüber. Es ist ein historischer Glücksfall, dass Guernsey und Biberach heute einen ebenso regen wie herzlichen Austausch pflegen. Es ist ein Glück – und es stimmt hoffnungsvoll –, dass aus Krieg und Feindschaft, Lagerhaft und Unrecht lebenslange Freundschaften und eine enge völkerverbindende Partnerschaft werden können.

  Dazu gehört, dass wir an die dunklen Kapitel unserer Geschichte immer wieder erinnern, nichts in Vergessenheit geraten lassen und nichts übertünchen. Das ist Grund und Anlass für die Kabinettausstellung, die wir heute eröffnen, und deshalb will ich Ihnen im Folgenden die Kapitel dieser Geschichte kurz durchblättern.

  Seit 1935 bemüht sich der damalige parteilose Bürgermeister Josef Hammer um die Stationierung einer Garnison der Wehrmacht in Biberach. Nachdem größere Industrieansiedlungen gescheitert sind, verspricht auch ein Militärstandort die wirtschaftliche Belebung. Und endlich stimmen die Heeresstellen zu. Am 27. Juni 1939 trifft das Ergänzungsbataillon des Infanterieregiments 56 in Biberach ein. Der Marktplatz ist festlich und mit vielen Hakenkreuzfahnen geschmückt und „dicht von der Bevölkerung umsäumt.“ Die Jugend bildet die „vordersten Reihen“, die Funktionäre und Repräsentanten stehen Spalier.

  Ob man an diesem feierlichen Junitag 1939 an Krieg denkt? Zwei Monate später ist er da. Das Biberacher Bataillon wird verstärkt und an die Westfront verlegt. Ein knappes Jahr noch bleiben ältere Soldaten und Rekonvaleszenten des Landesschützen-Bataillons in Biberach, bis das Wehrmeldeamt im August 1940 dem Biberacher Bürgermeister mitteilt, „dass in der Kaserne in der Birkenharder Straße kriegsgefangene Offiziere untergebracht“ werden.

  Damit beginnt der Umbau der Kasernenanlage zum Kriegsgefangenenlager. Im Dezember 1940 kommen französische, ab Ostern 1941 britische Kriegsgefangene. Das Fassungsvermögen des Lagers liegt bei etwa 1.000 Menschen. Bis Oktober 1941 werden die französischen Gefangenen abgezogen. Die knapp 900 britischen Offiziere richten sich ein, sie organisieren ein Unterhaltungsprogramm mit Theateraufführungen und Sprachkursen. Die Bibliothek umfasst 2.500 Bücher. Außerdem unternehmen sie eine Reihe von Ausbruchsversuchen. Spektakulär ist der Bau eines Fluchttunnels. Unter dem Kanonenofen in Baracke 6 kratzen sie die steinige oberschwäbische Erde aus, mit unzureichendem Werkzeug, mit Löffeln, Gabeln, Messern und Blechbüchsen. Dabei werden in knapp zwei Monaten 17 Tonnen Erde bewegt. Hocker und Einsatzbretter aus Schränken und Betten dienen zur Abstützung eines 30 bis 50 Meter langen engen Kriechtunnels. In der Nacht zum 14. September 1941 brechen 26 Offiziere aus. Am Morgen danach beginnt die groß angelegte Suchaktion. Sogar die Schuljugend sucht mit. Nach 8 Tagen sind 22 Ausbrecher gefasst. 4 der Offiziere erreichen in 2 Wochen die rettende Schweiz.

  Nach der Flucht will die Wehrmacht weitere Fluchtversuche erschweren. Deshalb werden die britischen Kriegsgefangenen nach Warburg verlegt, weit weg von der Schweizer Grenze ins Landesinnere. Beim Abmarsch der Soldaten am 10. Oktober 1941 sind die deutschen Wachen nervös. Denn 900 hochausgebildete Kämpfer werden offen durch die Stadt geführt. Am Bahnhof versucht der 21-jährige Lieutenant Jacob Michael Sturton unter bereitstehenden Waggons zu entkommen. Dabei fällt ein Schuss, dessen Querschläger einen Wachmann verletzt. Als Sturton mit erhobenen Händen hervorkommt, wird er mit zwei weiteren Schüssen erschossen. Ein Kriegsverbrechen. Nach der Genfer Konvention dürfen Kriegsgefangene auch nach Fluchtversuchen nicht benachteiligt, geschweige denn erschossen werden. Eine Tragödie. Was für ein sinnloser Tod.

  Noch viel mehr Kriegsverbrechen ereignen sich kurz danach zwischen November 1941 und Februar 1942 im Biberacher Kriegsgefangenenlager. Im November 1941 erhält die Stadtverwaltung einen Anruf vom Wehrmachtskommando. Das „Lager Lindele“ werde mit 2.000 bis 3.000 sowjetischen Kriegsgefangenen belegt. Man rechne mit einer Sterblichkeit „von 70-80 Russen pro Woche“ und verlange die Anlage von Massengräbern. Unmittelbar danach treffen in nächtlichen Bahntransporten am 10. und 22. November 1941 die sowjetischen Kriegsgefangenen ein – einige von ihnen liegen schon tot in den Waggons. Augenzeugen berichten, dass viele Gefangene vor Schwäche kaum gehen können. Passanten sollen die Wachen ermuntert haben, es den Gefangenen „feste“ zu geben, andere stecken Brot und Kartoffeln zu.

  Im Lager kommt es zu Misshandlungen, besonders nach Lebensmitteldiebstählen. Die Ernährung der Gefangenen besteht aus Kartoffeln und Kohlrüben. Der Biberacher Leichenbesorger Johannes Wiest berichtet, dass die oft schon in Leichenstarre befindlichen Toten zweimal pro Woche abgeholt und ohne Identifizierung in die Gräber im benachbarten „Franzosenwäldle“ gelegt, mit Ölpapier bedeckt und mit Chlorkalk bestreut werden.

  Hintergrund dieser fürchterlichen Geschehnisse ist der deutsche Angriffskrieg auf die Sowjetunion ab 1941. Zwischen Juli und Oktober 1941 geraten in den großen Kesselschlachten an der Ostfront über drei Millionen sowjetische Soldaten in deutsche Hände. Die Wehrmacht ist weder in der Lage noch willens, die sowjetischen Soldaten angemessen zu versorgen. Denn dies ist kein normaler Feldzug, sondern ein weltanschaulicher Krieg, eine angeblich geschichtsnotwendige Auseinandersetzung zur Auslöschung des „jüdischen Bolschewismus“ und zur Eroberung von Lebensraum im Osten. Die Sowjetsoldaten gelten nicht als Kombattanten, sondern als rassisch minderwertig. Außerdem gilt der Kommissarbefehl, wonach begleitende politische Soldaten der Roten Armee nicht gefangen genommen, sondern erschossen werden. Auch sollen die Millionen Gefangenen aus Angst vor dem Kommunismus nicht in Kriegsgefangenenlager innerhalb der Reichsgrenzen zurückgeführt werden. Erst die Einsicht, dass der „Blitzkrieg“ gegen die Sowjetunion nicht so schnell beendet werden kann, führt im Herbst 1941, als die Versorgungssituation für die Gefangenen prekär wird, zum Einlenken. Nun wird überall in Deutschland nach Lagerkapazitäten gesucht, und so kommen 2.000 bis 3.000 sowjetische Soldaten nach Biberach. Schon im Februar 1942 werden die Sowjetsoldaten aus unbekanntem Grund und mit unbekanntem Ziel wieder verlegt. Die Stadtverwaltung Biberach meldet insgesamt 146 Tote. Als Todesursachen wird vermerkt: Durchfall, Darmbruch, Erfrierungen an Händen und Beinen, Hungerödeme und Lungenentzündung.

  1949 – nach dem Krieg – veranlasst die französische Militärregierung die Überführung der namenlosen Leichen aus dem Massengrab im „Franzosenwäldle“ auf den Friedhof an der Memminger Straße. Hier werden mehr als 600 Opfer unter Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern aus dem gesamten südlichen Bereich der französischen Besatzungszone bestattet. Seit 1954 steht hier ein Gedenkstein mit kyrillischer Inschrift. Seit Mitte der 1980er Jahre kümmert sich die örtliche Pax-Christi-Gruppe um die Pflege der Gräber. Sie errichtet ein viereinhalb Meter hohes Sühnezeichen in Form eines russischen Kreuzes. 1991 erbringt eine Sammlung unter dem Motto „Gebt den Namenlosen ihre Namen wieder“ genug Geld, um allen 614 Toten eigene Namenstafeln zu geben. Meine Damen und Herren, wir haben kein Foto und keinen Gegenstand von diesen geschundenen Menschen. Nichts. Wir können deshalb auch nichts – im Sinne von: kein etwas – ausstellen. Wir haben nur den russischen Friedhof an der Memminger Straße mit seinem würdigen Kreuz und den vielen Namenstafeln. Gehen Sie einmal hin. Das lässt Sie nicht mehr los.

  Meine Damen und Herren, ich übergehe an dieser Stelle das anschließende Kapitel der französischen, serbischen und kroatischen Kriegsgefangenen im „Lager Lindele“ 1942. Nur so viel: Im August brechen während eines Fußballspiels 61 Gefangene aus. Einer der Ausbrecher, der 34-jährige jugoslawische Hauptmann Petar Komadinovi, wird auf der Flucht am Bahnhof in Altshausen erschossen und danach auf dem katholischen Friedhof in Biberach beerdigt. Auch das ist ein Kriegsverbrechen. 59 Entflohene werden wieder aufgegriffen.

  Und nun das bedeutendste Kapitel in der Geschichte des Lagers auf dem Lindele: Ab September 1942 wird das Kriegsgefangenenlager auf dem Lindele zum Deportiertenlager für Zivilisten. Ab September 1942 werden etwa 1.000 britische Bürger von den besetzten Kanalinseln ins „Lager Lindele“ gebracht. Nachdem deutsche Staatsbürger im Iran von britischem und sowjetischem Militär nach Australien bzw. Sibirien deportiert worden sind, fassen deutsche Regierungsstellen den Plan, im Gegenzug britische Staatsangehörige nach Deutschland zu deportieren. Die Wehrmacht verteilt insgesamt 2.000 Personen von den Inseln Jersey, Guernsey und Sark, die nicht zur einheimischen Bevölkerung zählen, auf Lager u. a. in Dorsten in Westfalen, Biberach und Wurzach. Biberach wird zum Internierungslager für Menschen hauptsächlich aus Guernsey. Es handelt sich um Familien mit Kindern oder um ältere Menschen, die ihren Wohnsitz auf den Kanalinseln genommen haben, sowie um britische Kriegsdienstverweigerer und Pazifisten. Diese unschuldigen Zivilisten werden nun in Lagerhaft genommen, um mit ihnen als Geiseln über den Austausch deutscher Zivilisten in britischer Hand verhandeln zu können.

  Die Wehrmacht übergibt die Bewachung des Lagers an die Schutzpolizei. Daraufhin wird den Deportierten erlaubt, eine eigene Lagerverwaltung aufzubauen. Der britische Lagerkapitän Garfield Garland hält den Kontakt zur deutschen Lagerleitung und trägt die Anliegen der Deportierten vor. Jede Baracke hat eine Barackenführerin oder einen Barackenführer. Die Deportierten richten sogar eine Polizeitruppe ein, die im Schichtdienst für Ruhe sorgt. Ein internes Lagergericht ahndet Disziplinlosigkeiten mit einem eigenen „Gefängnis“, damit das deutsche Lagergefängnis gar nicht erst benutzt werden muss.

  Meine Damen und Herren, bedenken Sie, es handelt sich um ungefähr 1.000 Menschen, die zwar alle von den Kanalinseln kommen, aber aus unterschiedlichen sozialen Schichten stammen und nun eng zusammengewürfelt werden. Kleine Missstimmungen können sich dynamisch aufputschen und zu einem gefährlichen Eingreifen der deutschen Bewacher führen. Ja, die Versorgung des Lagers ist gut. Ab Dezember 1942 kommen regelmäßige Hilfslieferungen des Internationalen Roten Kreuzes in Gang. Von da an leben die Deportierten lieber von Konserven als von der Lagersuppe und Sauerkraut. Es kommen hunderte Pakete monatlich.

  Dennoch leiden viele Deportierte darunter, eingesperrt zu sein. In den Baracken herrscht eine unglaubliche Enge. Schlimme Gerüchte kursieren. Obwohl als Familienlager gedacht, werden Frauen und Männer in getrennten, abends verschlossenen Baracken untergebracht. Entwürdigend für die Frauen sind die Gemeinschaftsduschen, die einmal wöchentlich besucht werden dürfen.

  Nur wenige Wochen nach der Ankunft der Deportierten sinken die Temperaturen. Oben auf einer Hochebene ist das Lager Wind und Wetter ausgesetzt. Es wird Winter in Oberschwaben. Hohe Schneewehen, Eisblumen an den Fenstern und steif gefrorene Wäsche auf der Leine sind für die Kanalinselbewohner absolut ungewohnt. Da die Wehrmacht die Koffer der Deportierten mit warmer Kleidung erst Anfang Februar 1943 von den Kanalinseln nachschickt, frieren die Frauen und Mädchen ohne Strümpfe und die Männer und Jungen in kurzen Hosen. Aber schon stellen sich die ersten humanitären Wunder ein. Einige Biberacher Mädchen, die gehört haben, wie sehr die Menschen im Lager frieren, beschaffen sich auf dem Bahnhofsgelände ein paar Kohlen und werfen sie über den Lagerzaun.

  Meine Damen und Herren, diese Deportierten lassen sich nicht unterkriegen, sie zeigen eine bewundernswerte Disziplin und einen bewundernswerten Durchhaltewillen. Das geht nicht ohne Konflikte, Missgunst und auch Misstrauen, zum Beispiel gegenüber dem privilegierten Lagerkapitän Garfield Garland. Aber insgesamt stellen sie schier Unglaubliches auf die Beine. Das wird beinahe ein kleines Städtchen oben auf der Hochfläche nördlich von Biberach.

  In zwei Baracken, eine für Frauen, eine für Männer, wird eine Krankenstation eingerichtet. Unter den Deportierten gibt es zwei Ärzte. Einmal die Woche kommt ein deutscher Stabsarzt zur Visite. Mehrere Schwestern und Pfleger, zum Teil vom Roten Kreuz, leisten die Stationsarbeit. Hier werden auch Abdrücke für Zahnprothesen genommen, die über das Rote Kreuz in England bestellt werden. Brillen werden von einem Biberacher Optiker geliefert. Infolge fortgesetzter Bücherspenden des Internationalen Roten Kreuzes und des YMCA wächst die Lagerbibliothek auf mehr als 5.000 Bücher. Sie wird von einem Bibliothekar und mehreren Helfern betreut. Es gibt sogar eine Buchbinderausrüstung zur Reparatur zerlesener Bände.

  Für die 170 Kinder im Lager wird eine Pflichtschule mit acht Lehrkräften aufgebaut. Für die Erwachsenen werden Sprachkurse angeboten. Regelmäßig werden Theaterstücke aufgeführt. Zwischen 1943 und 1944 sind das mehr als 30 Theaterstücke. Höhepunkt ist eine bunte Karnevalsveranstaltung im August 1943, die sogar im Film festgehalten wird, den Sie oben in der Ausstellung sehen können. Auch Sport- und Gymnastikkurse werden angeboten und Fußball- und Krickettourniere organisiert. Sonntags halten die 4 anglikanischen und methodistischen Geistlichen Gottesdienste ab. Von Zeit zu Zeit liest der katholische Stadtpfarrer Keppeler aus Biberach eine Messe.

  Trotzdem ist das Leben hinter Stacheldraht kein Zuckerschlecken. Die Menschen leiden unter der Haft, unter der Enge, unter der Untätigkeit. Viele sind deprimiert, antriebslos, apathisch. Nur wenige stellen sich für freiwillige Arbeiten außerhalb des Lagers zur Verfügung. Sie wollen mit dem Feind nicht kollaborieren. Erst als bekannt wird, dass Schokolade, Tee oder Kaffee aus den Rotkreuzpaketen in Biberach gegen Obst, Gemüse oder Eier getauscht werden können, erhöht sich die Arbeitsbereitschaft. 80 Deportierte arbeiten in Privathaushalten, bei einem Uhrmacher oder bei Bauern. Und dabei entstehen – man glaubt es kaum – Freundschaften.

  Der Gärtner Frederick Cockayne aus Guernsey, dessen Frau im Juni 1943 im Schussenrieder Krankenhaus gestorben ist, arbeitet im Garten der Biberacher Familie Haug und wird für den jungen Peter Haug, der ihn im Lager abholt und nach der Arbeit zurückbringt, zu einem väterlichen Freund, mit dem er sich, da er nicht genügend Englisch spricht, mit Händen und Füßen verständigt.

  In Begleitung der beliebten Rotkreuzschwester Anny Sigg lassen sich schwangere Frauen – auch das gibt es im „Lager Lindele“ – zur Entbindung in die Krankenhäuser in Biberach oder Ochsenhausen einweisen. So kommt am 28. Januar 1943 im Biberacher Krankenhaus der kleine David Skillett zur Welt, in derselben Nacht wie der kleine Biberacher Heiner Koch. Die Mütter der Babys lernen sich im Wochenbett kennen. Die Familien halten Kontakt, heute in der dritten Generation. Meine Damen und Herren, ich finde diese Geschichten unglaublich schön. Das sind hier nur 2 Beispiele von weiteren wunderbaren Menschengeschichten.

  Gegen Ende des Krieges wird es noch einmal hart. Die Versorgung mit Rotkreuzpaketen stockt. Auch die Kohlelieferungen verringern sich um ein Drittel. Doch es kommt noch schlimmer, als im November 1944 und Januar 1945 schockierende Transporte aus dem Konzentrationslager Bergen-Belsen in Biberach eintreffen. Dabei wird die verbrecherische Behandlung der als Juden eingestuften Menschen durch die SS offensichtlich. In zwei Zügen am 17. und 18. November 1944 kommen fast 150 nordafrikanische Juden mit britischen Pässen. Sie sind in schockierendem Zustand. Wegen Typhus- und Fleckfieberverdacht werden die Ankommenden in zwei abgegrenzten Baracken untergebracht.

  Am 23. Januar 1945 bringt ein weiterer Transport aus Bergen-Belsen 300 deutsche und österreichische Juden mit südamerikanischen Rettungspässen nach Biberach. Sie sollen an einem deutsch-amerikanischen Austausch teilnehmen. Doch in Biberach müssen 40 Insassen den Zug verlassen. Ausgeladen werden auch zwei verstorbene Männer. Einsteigen dürfen 42 Internierte aus dem „Lager Lindele“, die über gültige US-Pässe verfügen. Am folgenden Tag treffen nochmals 40 Personen im Lager ein. Die gesundheitliche Verfassung dieser Menschen ist noch schlimmer als die der nordafrikanischen Juden. Die 42 Jahre alte Elisabeth Joshua-Eisenmann wiegt noch 35 Kilogramm. In den nächsten Wochen sterben 7 Männer.

  Aber am 23. April 1945 werden die britischen Deportierten und ebenso die jüdischen Verschleppten von französischen Truppen befreit. Die meisten der Deportierten treten ab dem 27. Mai die Heimreise an, zunächst nach England, weil die ausgehungerten Kanalinseln noch keine zusätzlichen Menschen aufnehmen können. Zuvor tragen die Befreiten Kisten voller Konservendosen in die Stadt, um sich bei ihren Biberacher Freunden zu bedanken.

  Schon kurz nach dem Krieg beginnen die Besuche von ehemaligen Deportierten in Biberach und von Biberachern auf den Kanalinseln. Seit 1997 erfolgen diese Besuche in Biberach auch auf offizielle Einladung durch die Stadt und den Freundeskreis Guernsey. Inzwischen haben sich auf verschiedenen Ebenen – Verwaltung, Polizei, Schulen und Kirchen – partnerschaftliche Beziehungen zwischen Guernsey und Biberach entwickelt. Im Jahr 2005 wird der damalige Biberacher Oberbürgermeister Thomas Fettback von der britischen Königin im Rahmen der Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag der Befreiung Guernseys von deutscher Besatzung wegen seiner Verdienste um die deutsch-britische Aussöhnung mit der Ehrenmedaille „Officer of the British Empire“ (OBE) ausgezeichnet.

  Das ehemalige „Lager Lindele“ dient nach 1945 als Flüchtlingslager und Krankenhaus für Heimkehrer. 1951 zieht zusätzlich die Polizeibereitschaft des Landes Württemberg-Hohenzollern ein. 1970 bis 1976 laufen umfangreiche Baumaßnahmen. Die Baracken werden abgerissen und feste Unterkunfts- und Verwaltungsgebäude errichtet. Auch danach wird die Bereitschaftspolizei Biberach wiederholt umorganisiert. Im Zuge der Strukturreform der Polizei 2014 wird Biberach als reiner Ausbildungsstandort der Hochschule für Polizei Baden-Württemberg angegliedert.

  Vom ehemaligen Lager auf dem Lindele erkennt man heute so gut wie nichts mehr. Deshalb, meine Damen und Herren, kommt es heute darauf an, dass wir dort einen würdigen Gedenkort errichten. Auch dafür ist die Ausstellung, die wir heute eröffnen, die inhaltliche Vorarbeit. Zugleich führt Prof. Löbermann von der Hochschule Biberach in diesem Wintersemester ein Seminar mit Studierenden durch, an dessen Ende im Februar verschiedene Entwürfe für einen solchen Gedenkort am ehemaligen „Lager Lindele“ stehen sollen. Diese Entwürfe werden hier im Museum präsentiert. Hoffentlich wird einer davon bald Realität. Gegen das Vergessen. Zur steten Mahnung und Erinnerung, was Menschen Menschen antun können, im schrecklichsten und auch im besten Sinne.
  Danke!